«Oft habe ich zu viel gemacht»

Luzern, 5. November 2014 – Statt das Meridiansystem zu erweitern, wird im Shin Tai-Shiatsu auf zwei Gefässe fokussiert. Dazu kommt die Integration westlicher Techniken. Der Shiatsu-Lehrer Hermann Grobbauer hat auf Fragen zu dieser Form von Shiatsu geantwortet.

Hermann Grobbauer, Shiatsu-Therapeut und -Lehrer, bringt Shin Tai-Shiatsu an die Heilpraktikerschule Luzern.

Hermann, Shin Tai-Shiatsu, was ist das?

Frei übersetzt heisst Shin Tai «Quelle des Körpers». Saul Goodman hat dieses System des erweiterten Shiatsu entwickelt, dies aufgrund seiner langjährigen Erfahrung mit Shiatsu und anderen Formen der Körperarbeit. Es ist sozusagen eine Evolution des Shiatsu. Es geht um eine Ausrichtung der Körpersysteme auf physischer, mentaler, emotionaler und spiritueller Ebene, was dem Menschen erlaubt, verlustig gegangene Lebenskraft zurückzugewinnen. 

Westliche und östliche Techniken werden kombiniert. Inwiefern?

Traditionell arbeiteten die alten Meister auf den verschiedensten Ebenen. Ihr Ansatz war es, in erster Linie Bewegung in das Körper/Geist/Seele-System zu bringen. Dabei beschränkten sie sich nicht auf das Meridiansystem und harmonische Bewegungen, sondern richteten Gelenke aus, verwendeten ihre Stimme als Resonanzwerkzeug, zum Beispiel im Kotodama oder in Mantras, sie praktizierten Chakra-Heilkunde et cetera, je nach Begabung des Therapeuten.

Was bedeutet das für das heutige Verständnis von Shiatsu?

Das ist eine Frage, die sich viele Shiatsu-TherapeutInnen, ja wohl auch Shiatsu-StudentInnen und -DozentInnen stellen: die Definition, was Shiatsu heute bedeutet. Aus meiner Sicht gibt es nicht einfach «das Shiatsu», höchstens im Ansatz und Schwerpunkt der verschiedenen Ausbildungsstätten. Und in der Art, wie man es als TherapeutIn auch persönlich weiter entwickelt.

Shin Tai-Shiatsu ist aber zumindest eine relativ klare Weiterentwicklung des Shiatsu?

Ja, es verbindet Ansätze der westlichen Körperarbeit wie zum Beispiel Faszien-Release, Muskelenergie-Techniken, propriozeptives Training und auch Armreflex-Tests mit der Arbeit am Zentralkanal-, Meridian-, Chakra/Nadi- und Bioplasma (Aura)-System. Was mich sehr begeistert daran, ist die Vereinfachung bzw. Reduktion des Meridiansystems.

Vereinfachung? Das scheint jetzt überraschend.

Ja, doch, denn in vielen anderen Richtungen kann man Erweiterungen des Meridiansystems beobachten. Im Shin Tai-Shiatsu konzentrieren wir uns jedoch auf das primäre Informationssystem von Lenker- und Konzeptionsgefäss. Diese Gefässe sind die beiden ersten Energiebahnen und sie regieren laut Masunaga alle anderen. Diese Reduktion ist grundlegend.

Simplify!

Ja, genau, ich bin richtig Fan dieser Form des «Weniger ist Mehr!» geworden. Umso mehr, da der Rest ziemlich anspruchsvoll ist.

Inwiefern anspruchsvoll?

Nach meiner Erfahrung als Student und Lehrer dieser erweiternden Werkzeuge ist zum Beispiel die Strukturarbeit sehr herausfordernd. Es gibt ziemlich viel zu denken. Das gleiche gilt für die Arbeit mit den Phasen der Zentralkanal-Arbeit. Das im Detail zu beschreiben würde den Rahmen des Interviews sprengen. Der Aufbau des Moduls von Saul Goodman hat sich aber seit Jahren bewährt.

Was kann ich als Shiatsu-TherapeutIn von dieser Nachdiplom-Ausbildung erwarten? Was kann ich nachher ganz konkret besser bzw. ganz neu?

Ha, gute Frage! Ich persönlich habe mich früher häufig unter Druck gesetzt und viel zu viel gemacht. Das zehrte an den eigenen Energiereserven. Ich werde die Aussagen von Saul Goodman nie mehr vergessen: «Wir können die Menschen nicht heilen, aber wir können Bewegung in ihr System bringen.» Und: «Bewegung ist der Ausdruck der lebendigen Zelle und die Blume von Lenker-/Konzeptionsgefäss.» Shin Tai-Shiatsu demonstriert, wie diese Bewegung ins System zurückkommt und wie der Körper dies zeigt.

Etwas konkreter?

Konkret sehen wir das an der Atmung. Sie ist der Monitor für Lebendigkeit und Kraft im Körper. In bestimmten Phasen oder Stadien der Bewegung können wir beobachten, wie und wo der Atem Körperregionen in Bewegung bringt. Es ist ein Training das sich durch das gesamte Nachdiplomstudium zieht. Und gerade darin liegt auch die Evolution, nämlich die Prioritäten in der Therapie besser zu erfassen und ihnen zu folgen, um wirklich effektiv und erfolgreich zu «bodyworken».

Körperarbeit, sagst du. Inwiefern hilft Shin Tai-Shiatsu auch auf emotionaler, geistiger und spiritueller Ebene?

Diese Ausrichtung der Struktur, zum Beispiel die Gelenke der Wirbelsäule oder des Beckens, und die Entspannung des Faszien-Systems mit seinem ihm eigenen Schmerzgedächtnis, beeinflusst auch die feineren Energiefelder wie Meridiane, Chakras und Aura. Und dadurch entsteht mehr Resonanz, Raum und Bewegung im Körper. Bekommen wir mehr Raum, verändert sich auch die Wahrnehmung der Zeit. Wir kommen ins Jetzt. Durch mehr Bewegung im Körpersystem befreit sich die Lebenskraft, die durch alte Stressmuster im Bindegewebe eingeschlossen war. 

Woher kommt das?

Diese Kompressionen sind Folgen von Stress auf emotionaler, psychischer, chemischer oder spiritueller Ebene. Schau ein Baby an – es ist unser Referenzbeispiel. Wenn es atmet, sich bewegt, lacht, schreit, dann ist der gesamte Körper beteiligt, es ist ein freies System. Je älter und konditionierter wir werden, desto fragmentierter fühlen wir uns meistens. Das sieht man auch in der Atemwelle in der Wirbelsäule oder in Bewegungseinschränkungen der Gelenke

Hast du ein konkretes Beispiel für Shin Tai-Shiatsu, vielleicht eine Krankengeschichte?

Ich habe eine 69-jährige Klientin. Sie kam 1996 das erste Mal zu mir, sie litt seit 30 Jahren unter starken Migräneschüben. Dies setzte natürlich auch ihrer Psyche enorm zu. Schulmedizinisch hat nichts geholfen. Sie war schüchtern, so erzählte sie einmal, dass sie sich zum Beispiel nicht getraute, im Bus an ihrer Haltestelle um Durchlass zu bitten, sodass sie erst eine Station später aussteigen konnte. 

Das hört sich so an, als ob da psychologische Behandlung hilfreich wäre?

Ja, das dachte ich auch, doch schon nach einigen Sitzungen hat sie eine tiefgreifende Wirkung gespürt. Viele Emotionen wurden ausgelöst. Sie setzte sich mit sich und ihrer Vergangenheit auseinander und lernte, sich zu öffnen und ihren Gefühlen klareren Ausdruck zu geben. Ihr Körperbewusstsein verbesserte sich, sie gewann an Selbstvertrauen, und das stellte sie auf. Sie begann, spontaner und ehrlicher zu reagieren, was bei ihren Nächsten zu Beginn häufig Unverständnis und auch Angst auslöste, andere gaben ihr sehr positives Feedback, was sie motivierte, ihren Weg weiterzugehen. Die Migräne verschwand fast gänzlich, jedoch wurde ihr 2009 Fibromyalgie diagnostiziert. Schübe manifestierten sich bei ihr sporadisch und sind verbunden mit starken Muskelschmerzen, grosser Erschöpfung, Schlaflosigkeit und geschwollenen Fingern. Sie leidet dann unter einer schlechten physischen und psychischen Verfassung. Gemeinsam haben wir herausgefunden, dass sich dann, wenn sie mit einem Schub zur Sitzung kommt, ihr System entspannt. Ihr Körper richtet sich aus und gibt Raum, und sie regeneriert enorm schnell. 

Wie erklärst du dir das?

Sie sagte mir, dass sich ihre Psyche auf «unheilbar» eingestellt hatte. Seit ihren positiven Erfahrungen mit Shin Tai-Shiatsu habe sich dieses Wort relativiert und sie gäbe die Hoffnung auf Heilung nicht auf, was natürlich Geduld und Vertrauen brauche. Was ich bemerkenswert finde, ist, dass sie nicht beschwerdefrei ist, jedoch einen Weg gefunden hat, Genesungsprozesse schnell zu induzieren und sie dabei die meiste Zeit zufrieden ist. Sie hat in der Zeit ihres ersten Besuches bis heute eine enorme Wandlung gemacht. Sie hat Shiatsu für den Hausgebrauch gelernt, praktiziert Yogameditation und ist, was ja eigentlich gar nicht zu ihrer anfänglichen Schüchternheit passt, mittlerweile sozial sehr engagiert.

Was findest du persönlich an Shin Tai-Shiatsu so toll?

Kann man diesem Bericht noch was hinzufügen? (Lacht). 

Danke, Hermann!

 

Hermann Grobbauer ist KomplementärTherapeut OdA KT Methode Shiatsu und führt eine eigene Praxis mitten in Bern. Hermann gibt regelmässig Weiterbildungskurse bei uns an der HPS Luzern. Als Entwickler von Ki-Do Shiatsu, lässt er sein Wissen in den Unterricht einfliessen. Er besitzt langjährige Erfahrung in klassischer Yogameditation und ist seit 1992 Mitglied der schamanischen Forschungsgruppe im Centro Cristallo.

Hermann Grobbauer bei uns im Newsroom und mehr über Hermann Grobbauer und Shin Tai-Shiatsu auf Hermanns Website

https://www.heilpraktikerschule.ch/newsroom/news-detail/news/2014/11/05/oft-habe-ich-zu-viel-gemacht/