Das Beste zweier Ernährungstherapien

Luzern, 8. Juli 2013 – Ruth Rieckmann hilft KrebspatientInnen mit dem Besten zweier ganz verschiedener Ernährungstherapien, der nach TCM und der nach westlichen Standards. In ihrem Weiterbildungsmodul «Krebs: Integrative Ernährungstherapie» zeigt Ruth, was die Vorteile sind – und wie es funktioniert, wenn TCM-TherapeutInnen die Vorzüge beider Diätetiken für ihre KrebspatientInnen verbinden.

Ruth, was ist das Ziel der Ernährungstherapie bei Krebs?

Ruth Rieckmann: In der Ernährungstherapie von TumorpatientInnen geht es um Probleme, die bei dieser Erkrankung und während der Behandlungen auftreten. Das Ziel ist, über die Ernährung einen Beitrag zu besseren Heilungschancen und zu mehr Lebensqualität zu leisten. Der Begriff «Ernährungstherapie» bedeutet nicht, dass Tumorerkrankungen allein durch Ernährung geheilt werden können. Die Ernährungstherapie ist ein Baustein von verschiedenen schulmedizinischen und komplementären Behandlungsansätzen.

Welchen Beitrag kann die Ernährungstherapie denn leisten? 

Es geht darum, den Körper beim Kampf gegen die Tumorzellen zu unterstützen. Operationen, Chemo- und Strahlentherapie bekämpfen bösartige Tumorzellen gezielt. Aber Tumore lassen sich nicht immer komplett entfernen, z.B. wenn Metastasen auftreten oder Resistenzen gegen die Chemotherapeutika entstehen. Um diese letzten Tumorreste zu beseitigen und vor Rückfällen zu schützen, braucht es körpereigene Abwehrkräfte, also das Wei Qi. Eine gute Ernährung kann die Abwehrkräfte stärken. Darüber hinaus gilt es, wie bei gesunden Menschen, alle lebensnotwendigen Nährstoffe und ausreichend Energie zuzuführen, um Mangelernährung und Gewichtsverlust vorzubeugen.

Trotz Hightech wie Chemo- und Strahlentherapie kann die Chinesische Medizin auch noch helfen?

Ja, aus Sicht der Chinesischen Medizin braucht Genesung unter anderem eine starke Lebenskraft, Qi genannt, und ein starkes Qi ist ohne gute Ernährung nicht denkbar. Das Qi aus der Nahrung speist ja auch die Abwehrkräfte und die Blutbildung. Daher ist es wichtig, sich in jeder Phase der Tumorbehandlung und auch danach gut zu ernähren.

Mögen denn Krebs-PatientInnen überhaupt essen?

Tatsächlich ist das aufgrund des Tumorwachstums oder von Nebenwirkungen von Therapien für viele PatientInnen ein Problem. Doch die Diätetik der Chinesischen Medizin nutzt eine gezielte Auswahl von Lebensmitteln, um funktionelle Störungen wie Appetitlosigkeit, Übelkeit und Verdauungsstörungen zu lindern. Ingwer und Kardamom sind bekannte Beispiele. Auch Erschöpfung kann durch individuell zusammengestellte Kraftbrühen oder einige Pilze behandelt werden. 

Wie hängen Krebs, Ernährung und Abwehrkräfte zusammen?

In jedem Menschen werden ständig Körperzellen geschädigt. Daraus kann im Laufe der Zeit ein bösartiger Tumor entstehen, wenn die Abwehrkräfte es nicht schaffen, diesen Prozess zu stoppen. Sonneneinstrahlung, Tabakrauch, krebsfördernde Substanzen in Lebensmitteln wie Aflatoxine, auch Angebranntes sind Beispiele für krebserregende Stoffe. Diese Überwachung der Körperzellen durch das Immunsystems ist ein normaler Prozess, der ständig im Hintergrund abläuft. Weil das Qi im Laufe des Lebens schwächer wird, nimmt die Häufigkeit von Tumoren im Alter zu. In einer Studie an 40- bis 50-jährigen Unfallopfern fand man bei 33 % der Frauen Brustkrebs, bei 40 % der Männer Prostatatumore. Nur 1 % der Frauen und 2 % der Männer wussten von ihrem Tumor, das kann man bei Béliveau et al. 2010 nachlesen. Diese Zahlen machen deutlich, dass Tumore viel häufiger sind als angenommen, aber sie machen auch deutlich, dass die Abwehrkräfte es bei vielen Menschen schaffen, diese Tumore unter Kontrolle zu halten. Eine Ernährung, die die Lebenskraft Qi stärkt, stärkt auch die Abwehrkräfte, das Wei Qi, und hilft dem Körper, Krebszellen in Schach zu halten.

Und warum ist das Körpergewicht so wichtig, das ist ja eine eher schulmedizinische Sichtweise?

Das Körpergewicht ist zwar nur ein grober Indikator für den Ernährungszustand, aber bei Tumorerkrankungen ein wichtiger. Evidenzbasierte Studien zeigen, dass das Körpergewicht ein wichtiges Kriterium für die Prognose bei Tumorerkrankungen ist. Chemotherapien haben meist starke Nebenwirkungen, die es den PatientInnen schwer machen, regelmässig zu essen. Das geht in den ersten Zyklen noch gut, aber in den weiteren Zyklen werden selbst robuste Menschen stark geschwächt. Starkem Gewichtsverlust frühzeitig vorzubeugen, erhöht die Heilungschancen. Die Ernährung wird jedoch in der medizinischen Betreuung oft vernachlässigt, weil es Zeit, Fachkenntnisse und Einfühlungsvermögen braucht, um individuelle Lösungen zu finden. 

Wie gehst du vor?

Ich kombiniere die Ernährungswissenschaft mit der Diätetik der Chinesischen Medizin. Dadurch lassen sich viele Ernährungsprobleme lösen. Das betrifft Körpergewicht, Nährstoffversorgung, Linderung von Appetitlosigkeit, Übelkeit, Durchfall, Verstopfung, Mundtrockenheit und Erschöpfung. Ich informiere auch über neue Forschungsansätze und die darauf basierende ketogene Ernährung. Dann können die Betroffenen mit ihren OnkologInnen entscheiden, ob dieser Therapieansatz für sie in Frage kommt.

Gibt es Erfolgsgeschichten? Oder muss man etwas bescheidener fragen: Was kann man nach der Krebs-Diagnose vernünftigerweise von der Ernährungstherapie erwarten? 

Die Ernährungstherapie ist nach einer Krebsdiagnose immer wichtig, ob sie ein Baustein auf dem Weg zur vollständigen Genesung ist oder zur verbesserten Lebensqualität beiträgt. Das auch in Fällen, in denen es absehbar ist, dass das Leben allzu früh endet. Sie ergänzt die anderen Therapiebausteine, aber sie kann gerade bei länger andauernden Chemotherapiezyklen ein entscheidender Baustein sein. Das gilt auch, wenn Teile der Verdauungsorgane operativ entfernt werden. Es erhöht das Wohlbefinden der PatientInnen stark, wenn sie ohne grössere Problem essen und trinken können. Ausserdem gibt es einige dokumentierte Einzelfälle, in denen neuere Antikrebs-Diäten, die auf ketogener Ernährung basieren, zusammen mit den schulmedizinischen Standard-Therapien die Metastasierung von Tumoren zum Stillstand bringen konnten. Falls sich diese Hypothesen in Studien erhärten, könnte diese Art der Ernährungstherapie sogar ein Therapiebaustein werden, der die Tumorzellen gezielt bekämpft. 

Was ist der Unterschied zwischen westlicher Ernährungstherapie und TCM-Diätetik?

Die westliche Ernährungstherapie stellt das Körpergewicht und die Nährstoffversorgung in den Mittelpunkt. Das ist absolut gerechtfertigt, weil ein schlechter Ernährungszustand die Prognose verschlechtert und ein Grund für den Abbruch von schulmedizinischen Therapien sein kann. In der Praxis setzt die Ernährungstherapie aber oft zu spät ein. Der Blick auf die Waage genügt nicht, um das Körpergewicht zu beurteilen. Metastasierende Tumore können zu einem generalisierten Entzündungszustand im Körper und einem stark erhöhten Verbrauch von bestimmten Nährstoffen führen. Manche TumorpatientInnen verhungern sozusagen, ohne dass man es ihnen ansieht oder ohne dass das Körpergewicht sinkt.

Und die Diätetik der Chinesischen Medizin?

Sie arbeitet mit den Grundsubstanzen Qi, Xue, Jin Ye, Jing und Shen. Die Funktionskreise Milz und Magen haben eine zentrale Stellung, weil alle anderen Grundsubstanzen von der Qi-Produktion durch diese Funktionskreise abhängig sind. Selbst der Geist Shen ist nur gut verankert, wenn das Blut Xue stark ist. Die vorher erwähnten Nebenwirkungen von Strahlen- und Chemotherapie lassen sich durch eine gezielte Auswahl von Lebensmitteln lindern. Auch in der TCM ist eine individuell stärkende Ernährung Teil der Therapie, neben Phytotherapie, Akupunktur, QiGong und TuiNa. In der Praxis fehlen aber BeraterInnen und TherapeutInnen, die sich damit auskennen und sich die Zeit dafür nehmen. Es ist auch sinnvoll, von einem erfahrenen Berater zu lernen, wie man die westliche und die chinesische Denkweise am konkreten Fall verbindet und wo jeweils die Prioritäten liegen.

Welche Stärken und Schwächen siehst du jeweils in der TCM-Diätetik und westlichen Ernährungstherapie?

Bezogen auf TumorpatientInnen hilft das chinesische Medizinsystem, PatientInnen ganzheitlich zu erfassen und die Veränderungen laufend zu begleiten. Die Auswahl von Lebensmitteln nach Geschmack, Temperaturverhalten und Wirkrichtung ist sehr wirksam, um die Körperfunktionen der PatientInnen zu fördern und Nebenwirkungen abzumildern, die das Essen, Trinken, Verdauen und Ausscheiden erschweren. Anhand der Zunge und des Pulses lässt sich ablesen, wie es um die Körpersubstanz, Kälte oder Hitze, Trockenheit oder Feuchtigkeit, Fülle oder Leere bestellt ist. Die Chinesische Diätetik gibt aber keine Antwort darauf, wie viel die PatientInnen von einzelnen Lebensmitteln essen sollen, um das Gewicht zu halten, welche Nährstoffe bei einem generalisierten Entzündungszustand verstärkt zugeführt werden sollten oder ob bestimmte essentielle Nährstoffe fehlen. Dazu brauchen wir die Ernährungswissenschaft. Die neueren Anti-Krebs-Ansätze gehen sogar noch weiter.  Mit einem Denkansatz, der aus der chinesischen Phytotherapie bekannt ist, nutzen sie neuere Erkenntnisse über den Zellstoffwechsel von Tumorzellen und versuchen, über einen Entzug von Glukose diese Zellen zu schwächen. 

Chemo- und Strahlentherapien markieren sicherlich einen Extrempunkt in einem Leben. Da ist es, könnte man argumentieren, wohl auch angesagt, mal etwas zu tun, das einfach nur Freude bereitet. Kurz: Hat die Freude über ein in Butter gebratenes Wiener Schnitzel mit Pommes frites nicht auch einen therapeutischen Effekt?

Freude und ein positiver Geisteszustand sind das Wichtigste im Leben, auch bei einer ernsthaften Erkrankung. Ob das durch Schnitzel mit Pommes erreicht wird, hängt sicher von den individuellen Vorlieben ab. Eine gute Beratung motiviert Erkrankte und ihre Angehörigen dazu, die Ernährung als Teil der Therapie zu nutzen. Wie das genau aussieht, ist sehr individuell und hängt auch von den Wünschen und Möglichkeiten der PatientInnen und ihrer Familien ab. Zu Beginn der Therapie werden die Sorgen und Nöten angehört, die Befunde geprüft und die Möglichkeiten und Grenzen der Ernährungstherapie besprochen. Dann erarbeitet man gemeinsam das Beratungsziel und die Vorgehensweise. Es ist oft mehr möglich, als PatientInnen und ÄrztInnen glauben, vor allem wenn die Ernährungstherapie frühzeitig begonnen wird, wenn das Körpergewicht und der Allgemeinzustand noch gut sind. 

Das klingt optimistisch.

Ja, aber manchmal gehört es ebenfalls zu den Aufgaben, PatientInnen bis zu ihrem verfrühten Lebensende zu begleiten. Auch da gibt es von den PatientInnen oder Angehörigen Entscheidungen zur Ernährung zu treffen, die Leben verlängern oder verkürzen. Darauf sollten sich BeraterInnen einstellen, die mit TumorpatientInnen arbeiten. In der Weiterbildung, die ich an der HPS Luzern durchführe, werden Fälle aus meiner Praxis in verschiedenen Stadien der Erkrankung bearbeitet. Das gibt ein realistisches Bild der Herausforderungen und wie man in der Beratung vorgeht.

Nach deiner Weiterbildung: Was kann ich am Montag schon in meiner Praxis anwenden?

Das hängt vom Beruf und den Vorkenntnissen in chinesischer und westlicher Diätetik sowie Beratungsmethoden ab. Wer schon eine gute Basis hat, kann sich gleich in die Arbeit stürzen:

  • westliche und chinesische Diätetik verbinden
  • neue Erkenntnisse zum Tumorstoffwechsel nutzen
  • Ernährungsanamnese bei TumorpatientInnen durchführen
  • Ernährungsprotokolle auswerten
  • Ernährungssituation und Syndrome der TCM von TumorpatientInnen einschätzen
  • individuelle Empfehlungen zu Mahlzeitenrhythmus, Mahlzeiten, Lebensmitteln, Getränken und Nahrungsergänzungsmitteln geben
  • über ketogene Ernährungsformen bei metastasierenden Tumoren informieren

Und wer in westlicher oder chinesischer Diätetik nicht so bewandert ist?

Andere Berufsgruppen, die auch mit TumorpatientInnen arbeiten, aber nur am Rande mit Diätetik, können sich einen Überblick über die Ziele und die Vorgehensweise der integrativen Ernährungstherapie bei Tumorerkrankungen verschaffen und nur einzelne Bausteine nutzen oder sich Anregungen für die Kooperation mit ErnährungstherapeutInnen suchen.

Eine letzte Frage: Du hast eine eigene Praxis und arbeitest mit anderen Praxen von ÄrztInnen und HeilpraktikerInnen zusammen, warum?

Wenn ich in anderen Praxen die Patientinnen von ÄrztInnen und HeilpraktikerInnen berate, erspare ich diesen PatientInnen den zusätzlichen Weg in meine Praxis. Oft herrscht nach der Diagnose grosser Zeitdruck, und die PatientInnen und ihre Angehörigen fühlen sich überfordert. Ernährungstherapeuten können entlasten, wenn Sie mit Kliniken und Praxen kooperieren und an bestimmten Tagen dort die PatientInnen beraten. Auch ist die Abstimmung zwischen den TherapeutInnen auf diese Weise einfacher. 

Besten Dank für das Gespräch.

Ruth Rieckmann ist Diplom-Oecotrophologin (Universität Bonn) und TCM-Ernährungsberaterin (Universität Witten-Herdecke). Sie führt eine eigene Praxis für Ernährungstherapie in Bonn und arbeitet ebenfalls mit Schwerpunktpraxen für TCM zusammen. Sie unterrichtet integrative Diätetik an der Universität Witten-Herdecke und verschiedenen Schulen in Deutschland und in der Schweiz. Ruth Rieckmann ist Gründerin des Qualitätszirkels «Diätetik» der AGTCM (Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin e.V.; www.agtcm.de).

 

Weiterbildungs-Module mit Ruth Rieckmann

  • Integrative TCM-Ernährung: Tumorerkrankungen
  • TCM-Ernährung: Professionell beraten
  • Weiterbildungs-Serie: Integrative TCM-Ernährung

Diätetik-Ausbildungen an der Heilpraktikerschule Luzern

https://www.heilpraktikerschule.ch/newsroom/news-detail/news/2013/07/08/das-beste-zweier-ernaehrungstherapien